Emden- Sieben Kohlekraftwerke sind auf dem Festland vor den Ostfriesischen Inseln geplant. Nun fürchten die Inseln um ihren Status als Luftkurorte – und wehren sich so ZEIT Autor Martin Wein und der schreibt unter anderem Zitat:“Große Stromversorger wollen an den nahen Mündungen von Jade und Ems sieben neue Steinkohlemeiler bauen – als Ausgleich für den Atomausstieg.“
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Dicke Luft an der Nordsee
17/2008 S. 64 [http://www.zeit.de/2008/17/Luft]
Sieben Kohlekraftwerke sind auf dem Festland vor den Ostfriesischen Inseln geplant. Nun fürchten die Inseln um ihren Status als Luftkurorte und wehren sich
Von Martin Wein
Holger Kohls ist schon ein Dutzend Jahre lang Bürgermeister und Kurdirektor auf der ostfriesischen Insel Wangerooge. Er hat manche Sturmflutschäden beseitigt und die eine oder andere finanzielle Belastung der kleinen Gemeinde gemeistert. Herrscht im Rathaus mal wieder dicke Luft, tritt Holger Kohls gern auf die neue Strandpromenade an der Seeseite der Insel und atmet tief durch. Das geht gut: Schließlich ist Wangerooge autofrei und anerkanntes Nordseeheilbad mitten im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer und im Unesco?Biosphärenreservat. Vor allem deshalb kommen jedes Jahr 120.000 Gäste vom Festland herüber. 900.000 Übernachtungen registrierte die Kurverwaltung 2007. Nun fürchtet Holger Kohls, dass bald die Luft nicht mehr rein sein wird und das Prädikat Nordseeheilbad gefährdet ist. Manches Bett könnte dann leer bleiben. Der Grund: Große Stromversorger wollen an den nahen Mündungen von Jade und Ems sieben neue Steinkohlemeiler bauen als Ausgleich für den Atomausstieg.
Wangerooge, Spiekeroog, Langeoog, Baltrum, Norderney, Juist, Borkum auf allen Inseln vor der Küste Ostfrieslands herrscht die gleiche Angst. »Wir verkaufen saubere Luft«, sagt Reinhard Kaib vom Ordnungsamt der westlichsten Insel Borkum. Von dort sind es Luftlinie nur 15 Kilometer bis ins niederländische Eemshaven, wo RWE, Nuon und Electrabel Kohlekraftwerke mit einer Leistung von insgesamt 3600 Megawatt planen. Dazu kommen zwei Meiler in Emden mit jeweils 800 Megawatt. »Erst verbaut man uns den Horizont mit Windkraftanlagen auf hoher See. 1128 Rotoren sind in der Nordsee bereits genehmigt, 12.410 geplant. Und dann umzingelt man uns mit steinzeitlichen Kohlekraftwerken«, grollt Kaib.»Was mutet man uns noch zu?«Doch die sturmerprobten Insulaner wissen, wie man sich wehrt. Borkum und Juist seien die ersten Gemeinden gewesen, die den niederländischen Staat verklagten, erinnert sich Ordnungsamtschef Kaib mit Stolz. In den siebziger Jahren wollten die Nachbarn Unmengen Abwässer aus einer Kartoffelstärkefabrik ungeklärt in die Ems einleiten. Gerichte stoppten das Vorhaben. Auch den Kraftwerksplänen will man auf den Inseln nun nicht tatenlos zusehen. Mit der niederländischen Waddenvereniging klagen die Inseln zunächst gegen das Nuon?Kraftwerk in Eemshaven.
»Wirklich erreichen kann man aber nur etwas mit der Politik«, sagt Reinhard Kaib. Deshalb hat er eine Resolution an die Bundesregierung und das Land Niedersachsen verfasst. Die Bürgermeister aller sieben Inselgemeinden haben sie gerade unterschrieben. »Wir stehen für fast neun Millionen Gästeübernachtungen.
26.400 Arbeitsplätze hängen auf den Inseln und dem Festland vom Tourismus und von den Kurkliniken ab«, sagt der Wangerooger Kurdirektor Holger Kohls, der Sprecher der Gruppe. Nachhaltiger Fremdenverkehr sei die einzige Existenzgrundlage. Bund und Land sollen deshalb die Industrialisierung im Küstenraum durch weitere an der Küste Ostfrieslands geplante Kraftwerke stoppen, fordern die Insulaner. Außerdem wollen sie bilaterale Verhandlungen über die Vorhaben jenseits der Grenze. Wenn schon Kraftwerke notwendig seien, dann doch moderne Erdgasmeiler mit höherem Wirkungsgrad und weniger Emissionen. Im Wahlkreis von Angela Merkel auf Rügen hätten die Bewohner auch ein Kohlekraftwerk verhindert.
Mit 117 weiteren Medizinern aus Wilhelmshaven und Umgebung hat sich der Arzt Klaus Schmeding dem Kampf gegen die Kohle verschrieben. In Wilhelmshaven sollen neben dem bestehenden E.on?Meiler in drei bis vier Jahren zwei weitere Kraftwerke mit 1500 Megawatt Leistung ans Netz gehen. »Jede Steigerung der Emissionen erhöht die Häufigkeit von Krankheiten«, sagt der Gastroenterologe. Chronische Bronchitis, Asthma und Herzinfarkte würden zunehmen, auch wenn gesetzliche Grenzwerte nicht überschritten würden.
Während die Weltgesundheitsorganisation eine Feinstaubbelastung von 10 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft für tolerabel halte, seien in Deutschland 40 Mikrogramm erlaubt. In der Schweiz seien es beispielsweise aber nur 20. Die würden in Wilhelmshaven bereits erreicht. »Viele Küstenorte werden ihren Status als Luftkurorte verlieren«, prophezeit Schmeding.
Genau dies treibt die Inselgemeinden um. Die Winde würden Schadstoffe aus den Kohlemeilern herübertragen, fürchten Holger Kohls und seine Kollegen.»Wir hören die Bedenken natürlich«, sagt Jutta Kremer?Heye, Sprecherin im niedersächsischen Ministerium für Umwelt und Klimaschutz, »aber wir dürfen die Kohlekraft nicht verteufeln.« Schon um die schwankende Einspeisung der Windanlagen auf See auszugleichen, seien die Kraftwerke unverzichtbar. Dass die Länder Niedersachsen und Schleswig?Holstein bei der Unesco gerade das Prädikat Weltnaturerbe für die Inseln und das umgebende Wattenmeer beantragt haben, ändere daran nichts.
DIE ZEIT, 17.04.2008 Nr. 17